Jean Piaget war ein Schweizer Biologe und Pionier der kognitiven Entwicklungspsychologie, sowie Begründer der genetischen Epistemologie. Piaget definierte kognitive Entwicklung als eine Veränderung in Erkenntnisprozessen und des Wissens der Wahrnehmung und des Denkens, Vorstellungskraft und der Problemlösefähigkeit. Ein Bestandteil der kognitiven Entwicklung nach Jean Piaget, ist die sogenannte Objektpermanenz/Personenpermanenz. Sie beschreibt die kognitive Fähigkeit zu wissen, dass ein Objekt oder eine Person auch dann weiterhin existiert, wenn es oder sie sich außerhalb des Wahrnehmungsfeldes eines Kindes befindet.
Wie entwickelt sich die Objekt- oder Personenpermanenz und was hat sie für einen Einfluss auf Kleinkinder und ihre Entwicklung?
Orientiert man sich am Ansatz von Piaget, ist das Wissen um das Weiterexistieren von Gegenständen oder Personen, welche aus dem Sichtfeld verschwinden, nicht angeboren. Diese Fähigkeit wird im Laufe des Lebens eines Kindes im sogenannten sensomotorischen Stadium, dem ersten Entwicklungsstadium, in der Regel zwischen 0 und 2 Jahren erworben.
Wird beispielsweise ein Gegenstand vor den Augen eines Kleinkindes durch einen Sichtschutz verdeckt, scheint dieser Gegenstand für das Kind förmlich zu verschwinden. Zwischen dem 8. und 12. Monat – im ersten Entwicklungsstadium – führt das Verschwinden noch zu sogenannten „A- nicht B-Suchfehlern“. Die Aneignung der Objektpermanenz, stellt einen entscheidenden Meilenstein für ein Kleinkind dar. Am Ende der sensumotorischen Entwicklung begreifen Kinder tatsächlich, das der Gegenstand oder die Person noch weiter existiert, auch wenn er/sie für das Kind nicht mehr sichtbar ist.
Ich empfehle die Seite www.lexikon.stangl.eu für die, die tiefer in 6 Entwicklungsstufen nach Piaget eintauchen möchten. Die Stufen werden mit Angabe der etwaigen Altersstufe des Kindes beschrieben. Hier möchte ich persönlich anmerken, dass solche Tabellen wie alle anderen auch, reine Richtwerte abbilden. Kein Mensch entwickelt sich in jedem Bereich im selben Tempo.
Wie beeinflusst die Objektpermanenz ein Kind
Auf Ebene der intellektuellen und emotionalen Entwicklung, lernen die Kinder bereits im Säuglingsalter, ihre Eltern und engsten Bezugspersonen kennen. Sie bauen eine Beziehung zu ihnen auf und dadurch festigt sich die Bindung.
Gerade weil sich diese Bindung festigt, können Kinder Angst bekommen, wenn fremde Menschen auftauchen, oder wenn sie von ihren Eltern und Bezugspersonen getrennt werden. In der Regel beginnen diese Ängste ca. mit dem 8. Lebensmonat, den Eltern oft als „Fremdelphase“ bekannt. Noch intensiver werden diese Ängste zwischen dem 10. und 18. Lebensmonat durchlebt. Besonders wenn Kinder nicht in ihrem gewohnten Umfeld sind und dann noch von einem Elternteil getrennt werden mischen sich zur Angst noch Unsicherheit, vielleicht ein Gefühl von Bedrohung. Diese Emotionen sind ein normaler Bestandteil der kindlichen Entwicklung.
Wenn Kinder beispielsweise weinen, wenn ein Elternteil den Raum verlässt, hat das weniger etwas damit zu tun, dass das Kind zu lange zuhause war oder gar verwöhnt ist. Dieses Verhalten bildet viel mehr ab, dass die Kinder zu ihren Bezugspersonen eine Beziehung und Bindung aufgebaut haben. Das kann als etwas Positives betrachtet werden.
Mit dem Focus auf der Objektpermanenz bei der Auseinandersetzung mit Kindern in Fremdbetreuung wird sehr bewusst, dass sie ganz anderen Herausforderungen – teilweise auch Überforderungen – gegenüber stehen während wir Erwachsenen diese Situationen als völlig normal wahrnehmen und es als etwas betrachten, was dazu gehört.
Die meisten Kinder erleben ihre Eingewöhnung voraussichtlich im ersten Entwicklungsstadium nach Piaget. Vermutlich sind sie gerade dabei Objektpermanenz zu entwickeln, wenn die erste Trennung von den Eltern erlebt wird. Daher ist es so wichtig, dass wir Erwachsene dem Kind die geäußerten Gefühle zugestehen, es nicht mit irgend etwas ablenken oder mit Animation die Angst des Kindes überspielen.
Natürlich fühlt es sich schrecklich für die Eltern an, wenn ihr Kind bei der Trennung weint, brüllt und tobt. Der Titel „Schreikind“ ist in so einem Fall nicht gerecht, denn es erlebt schlicht und ergreifend Angst! Wie wir gelernt haben, weiß es nicht, dass die Eltern wieder kommen. Wichtig ist, dass die Eltern ihrem Kind sagen, dass sie wieder kommen und sich nicht heimlich davon stehlen um den Tränen zu entgehen, auch wenn das dem Kind bei den ersten Trennungen die Angst nicht nimmt. Wichtig ist jedoch der Lernprozess, der im ersten Fall nur aufgeschoben ist. Die emotionale Instabilität und deren Bewältigung sind wichtig, da sie auch durch das Weinen eines anderen Kindes, dem sensiblen Wort „Papa“ oder „Mama“, einem Foto der Eltern oder einem Konflikt ausgelöst werden können.
Spielerisch in den Alltag integriert, könnt Ihr als Eltern z.B. „Kuck-Kuck“ mit den Kindern spielen. Dadurch sehen sie, dass Ihr mit Eurem Gesicht zwar hinter Euren Händen verschwunden seid, aber im nächsten Moment wieder auftaucht, wenn Eure Hände zur Seite weichen.
Für das selbstständige Spiel eignen sich Gefäße mit verschiedenen Öffnungen und den dazu passenden Gegenständen.
Auch Dosen mit einem abnehmbaren Deckel, in welchen die Kinder Gegenstände fallen lassen können. Im ersten Moment ist das Objekt verschwunden und beim Öffnen des Deckels wieder sichtbar.
Manchmal fehlt noch etwas für unser Frühstück in der Krippe. Wenn ich beispielsweise sage, dass ich noch eine Banane aus der Küche hole, reagieren die Kinder unterschiedlich. Manche, die noch nicht so lange bei uns sind, weinen oder wirken plötzlich unsicher, andere, die schon etwas älter und länger bei uns sind, kennen diesen Vorgang und haben die Sicherheit, dass ich wieder zurückkomme. Mit der Banane in der Hand.
Wenn Ihr mehrere Kinder habt und eines beispielsweise gerade gewickelt werden muss, das andere Eure Abwesenheit noch nicht verkraften und deuten kann, weil die Objektpermanenz noch in der Entwicklung ist, könntet Ihr entweder den Wickelort in die Nähe des Geschwisterkindes verlegen oder aus dem anderen Raum eurem anderen ab und an etwas zurufen, damit es Eure Stimme hört. Die Türe lasst Ihr dabei geöffnet, weil auch das schon etwas mehr Nähe schaffen kann und euer Kind lernt, dass Ihr noch da seid, obwohl ihr aus dem Sichtfeld verschwunden seid. Oder Ihr nehmt das Geschwisterkind mit zum Wickelort.
Alle Optionen hängen jedoch von Eurer persönlichen Bereitschaft, Eurem Verständnis und Eurem Improvisationsgeschick ab 😊 und natürlich vom Rahmen, welchen Ihr zuhause möglich machen könnt.
Was den Kindern auf mentaler und emotionaler Ebene eine Stütze sein kann ist, ihnen beispielsweise eine Trennung anzukündigen, statt sie plötzlich eintreten zu lassen.
Rituale und Strukturen geben Kindern Halt und Sicherheit, daher legt gleichbleibende Abläufe vor einer Trennung fest.
Ich hoffe ich konnte Euch einen kleinen Einblick in diese umfassende Thematik geben. Wenn Ihr Lust habt, seht euch das Video an oder stöbert in meinen Quellenangaben. Grüße, Nadja
Quellenangaben